Blog Post

Lia Braun • Juli 30, 2022

Plastisches Gehirn und Negativitätsverzerrung


Einmal wöchentlich zwei Stunden zum eigenen Wohlergehen im Wald zu verbringen ist zweifellos eine gute Investition. Vielleicht ein bisschen laufen, dann langsamer werden, aufmerksam für das, was um Dich herum und in Dir vorgeht. Spüren, wie sich der Waldboden anfühlt, den Bewegungen der Luft und dem Rhythmus Deines Atems lauschend. Das alleine wird sich positiv auf Dein Nervensystem auswirken, wird Dein Immunsystem stärken, wird Dir Momente von mehr Gelassenheit und Leichtigkeit bescheren.   

Wollen wir Resilienz entwickeln braucht es mehr. Es braucht ein Bewusstsein für vorhandene Schutz- und Risikofaktoren. Vor allem braucht es eine freundliche Haltung gegenüber Letzteren, unseren verletzten Seiten, die sich irritiert, gereizt, hilflos fühlen oder sich zurückziehen möchten. Hier können diverse Resilienz-Tests Hinweise geben. Dann herauszufinden, welche Stärken hier im Weiteren einen Unterschied machen würden ist ein individueller Prozess. Es gibt aber auch innere Haltungen und Fertigkeiten, die quasi für alle hilfreich sind. 

Das Gehirn ist plastisch, d.h. dass unser regelmäßiges Tun im Gehirn „Spuren“ hinterlässt. Durch Intensität und Wiederholung bestimmter Erfahrungen bilden sich über die Zeit neuronale Strukturen aus. Im übertragenen Sinne werden aus anfänglich zarten Pfaden, Straßen und schließlich Autobahnen. Von Mal zu Mal feuern die neuronalen Netzwerke im Gehirn schneller bis alles fast automatisch abläuft. Ein Beispiel: Bei denen, die mit sms schreiben aufgewachsen sind und diese Kommunikationsform häufig nutzen, bildet sich das Daumenareal im Gehirn stärker aus. Das geht dann immer flotter. Der Aufbau innerer Ressourcen zur Stärkung unserer Widerstandskraft funktioniert ähnlich. 

Es braucht viele verkörperte und intensiv erlebte Erfahrungen 

Möchten wir wach im Moment sein statt im übertragenen Sinne "auf alten Straßen" unterwegs zu sein, dann bedarf es eines regelmäßigen, achtsamen Tuns im Hier und Jetzt. Möchten wir die Überzeugung in uns tragen, stets Einfluss auf unsere Befindlichkeit nehmen zu können und grundsätzlich handlungsfähig zu sein, dann braucht es Erfahrungen, die eben dies verkörpern. Das ist mit Üben gemeint. So können sich alternative Verknüpfungen entwickeln. Werden die bisherigen Straßen nicht mehr befeuert, werden sie mit der Zeit verblassen. 

Doch in diesem Prozess gibt es auch Hürden: Im Zuge unserer Evolution war es überlebenswichtig, den (potentiellen) Gefahren stets Aufmerksamkeit zu schenken und sie präsent zu haben. Sich der Freude über die entdeckten schönen roten Früchte hinzugeben und dabei den berühmten hungrigen Säbelzahntiger im Gebüsch zu übersehen, wäre das Ende gewesen. Die, die die Gefahren im Blick hielten, überlebten und hatten Gelegenheit, sich fortzupflanzen. Das Erbe unserer Vorfahren: Die Negativitätsverzerrung. Unsere Aufmerksamkeit geht ganz von selbst, wie von einem starken Magneten angezogen zu dem (potentiell) Gefährlichen, dem Besorgniserregenden. Sie hängt automatisch an schwierigen Erfahrungen und wahrgenommenen Schwächen. Das machen sich die Texter von Schlagzeilen und viele andere zunutze. Positive Momente hingegen, z.B. eine kurze freundliche Begegnung, eine Aufmunterung durch die Freundin, die wohlige Wärme der Sonne auf der Haut, ein Kinderlachen – eben die kleinen Freuden im Alltag rauschen oft nur so durch uns durch. Damit auch sie Spuren in unseren Gehirnen hinterlassen, dürfen wir sie bewusst wahrnehmen oder erinnern und ganz lebendig werden lassen. (Siehe z.B. die Arbeit von Rick Hanson) 

Die Negativitätsverzerrung bringt auch mit sich, dass wir i.d.R. unsere potentiellen Ressourcen und unsere Möglichkeiten unterschätzen, die Hürden und unsere Schwachpunkte hingegen eher überbewerten. Ist uns dies bewusst, können wir im Alltag leichter bemerken, wann wir mit dem Negativ-Erleben oder den düsteren Aussichten verschmelzen oder uns schon ganz damit identifizieren. Dann hilft es, innerlich ein wenig zurückzutreten, den Blick zu weiten, Kräfte wachzurufen und den verunsicherten Seiten in uns mitfühlend beizustehen. Das tut gut. So lernen wir, mit uns selber Freundschaft zu schließen und uns in guter Weise zunehmend leichter zu regulieren.  

"Nana korobi, ya oki" ist ein japanisches Sprichwort. (Siebenmal hinfallen, achtmal wieder aufstehen)


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